Bolko von Oetinger war lange Chef der Boston Consulting Group
in Deutschland. Mit seiner 2004 erschienenen Schrift „Die Renaissance des Raums“ formulierte er ein Plädoyer für mehr räumliches Denken in der Wirtschaft. Wir treffen uns, zum Thema passend, physisch im Zentrum Münchens im Luitpold-Block, einem Ort, an dem Konsum und Kultur zusammentreffen.
Herr von Oetinger, vor Jahren riefen Sie die Renaissance des Raumes in den Strategieüberlegungen großer Unternehmen aus. Gilt die These heute, in Zeiten der Digitalisierung, immer noch?
Sie hat immer gestimmt. Ein Raum ist durchlässig und kennt keine festen Grenzen. Märkte werden dagegen wirtschaftlich definiert und suggerieren strikte Trennungen. In Wirklichkeit sind sie aber auch soziale Konstrukte ohne feste Grenzen, aber mit sehr belebten Grenzräumen. Man kann sich das bildhaft vorstellen. Märkte sind keine schroff abfallenden Felsen, die wie Solitäre in der Landschaft stehen, sondern Felsen mit einer hügelig auslaufenden Landschaft, also Zentren mit „blühenden“ Peripherien. Und diese sind wichtig, denn genau da entsteht Innovation.
Ein Beispiel?
Werfen wir einen Blick auf die Geschichte, speziell die Religionsgeschichte: Das Christentum entsteht nicht in Rom, sondern am Rand des Reiches in der Provinz Judäa. In Rom wäre Jesus sofort am Ende gewesen. Die Reformation wächst in Wittenberg. Das hätte der Papst auf der Landkarte nur schwer gefunden.
Diese Logik gilt auch für die Wirtschaft?
Ja. Sie brauchen Freiräume, und die finden sich dort, wo das Neue sich mit dem Alten nicht sofort reibt. Der Mobilfunk wurde in Deutschland nicht durch die Telekom, sondern durch Mannesmann eingeführt, der PC von Apple und nicht von IBM, der Billigflug von Ryanair und nicht von den großen Airlines, Streaming ist von Netflix und nicht von Hollywood erfunden worden. Es sind die „Außenseiter“, die von „außen“, von den Peripherien kommen und am Ende die Zentren bedrohen. Das heißt: Eine gute Strategie denkt räumlich, orchestriert Zentrum und Peripherie bewusst – und macht die Peripherie, den Ort der meisten Innovationen, zu ihrem Zentrum.
Was heißt das für die Stadt? Müssen Unternehmen raus aus der Stadt?
Vielleicht müssen sie auch noch viel stärker in sie hinein. Unternehmen müssen ihre Grenzen offen gestalten und schnell auf kulturelle Signale reagieren. Beispiel: Wenn Konsumenten Kaffeemaschinen für 3000 Euro kaufen, dann ist das mehr als eine Kaffeemaschine. Das sind starke Signale. Was geht da vor sich? Die Kaffeemaschine als Ausdruck eines Lebensstils, als Accessoire? Hier beginnt Innovation. Leider sind gerade starke Organisationen extrem gut, störende Signale zu unterdrücken.
Die Frage ist aber: Wie realisieren Unternehmen dieses Denken in Szenarien und Offenheiten räumlich?
Indem sie Zentrum und Peripherie integrativ oder besser dialektisch betrachten. Es geht um die Beziehung beider Räume. Die Peripherie sollte sich im Zentrum widerspiegeln, und das Zentrum sollte sich auch der Peripherie bedienen.
Gilt das auch für Stadt und Land?
Wir haben ja heute Elemente von Stadt im ländlichen Bereich und umgekehrt. Es kommt auf die Beziehung an. Eine Stadt verfügt über ein breites Portfolio aus Fähigkeiten, Institutionen, kulturellen Elementen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen. Das Umland, die physische Peripherie, ist kein Gegensatz zur Stadt, sondern macht dialektisch gesehen Stadt erst möglich, so wie die Stadt das Umland prägt. Vielleicht schöpfen die Menschen, die hinter den Fähigkeiten und Prozessen einer Millionenstadt stehen, ihre Innovationskraft aus ihrem ländlichen Umfeld.
Dennoch sitzen wir beide nun, ganz klassisch, in einem Stadtzentrum.
Ja, und zwar in München. Diese Stadt macht vor, wie Städte für Unternehmen einen Mehrwert entfalten. Und zwar als Zentrum von Wissenschaft und als Netzwerk an intellektuellem Reservoir.
Weltweit sitzen große Firmen häufig in den Metropolen. Gerade in Deutschland ist das aber nicht der Fall.
Sie sprechen die Hidden Champions an, die irgendwo auf der schwäbischen Alb sitzen, wie zum Beispiel Zeiss in Oberkochen. Gerade diese hochspezialisierten Unternehmen managen ihre weltweiten Beziehungen und ihre eigenen Peripherien sehr bewusst. Sie sind sehr global und vernetzt.
Aber die Idee der Clustertheorie, dass man abends an der Bar andere Innovatoren trifft, ersetzt das nicht.
Die Bar-Analogie und die Clustertheorie stammen einerseits natürlich aus einer Zeit vor der Digitalisierung. Aber darüber hinaus gilt es eben, unabhängig vom Firmensitz sich auch in den wirtschaftlichen Zentren zu zeigen. Es gibt einen ökonomisch-technischen Tratsch, den die Stadt erleichtert und der manche Personalentscheidung beeinflusst.
Sie haben die „Renaissance des Raums“ vor 18 Jahren geschrieben. Was hat sich seither verändert?
Damals war die Globalisierung auf dem aufsteigenden Ast. Es ging primär um Erfolgsmaximierung, und Topmanager fühlten sich als Masters of the Universe. Die Idee des Global Village dominierte, und Thomas Friedman erzählte uns 2005, dass die „world flat“ sei. Heute merken wir, dass die Welt nicht flacher, sondern bergiger wird. Kulturelle Unterschiede sind groß und wachsen.
Und die Idee der Globalisierung ist tot, wie manche sagen? Speziell auch durch den momentanen Angriffskrieg Russlands?
Auf jeden Fall hatte Fukuyama Unrecht mit seinem Ende der Geschichte. Die Welt wird polyzentrisch und polysystemisch. China ist eine Staatswirtschaft, Russland zunehmend eine reine Rohstoffwirtschaft. Der Prozess der Globalisierung im Sinne der Verwebung der Volkswirtschaften ist übrigens schon seit Jahren im Rückgang begriffen. Das hat auch mit der Transformation der Wirtschaft in Richtung Dienstleistungen zu tun. Dienstleistungen lassen sich schlecht exportieren oder nach Indien outsourcen.
Trotz indischer Call Center?
Das nimmt auch gerade wieder ab. Viele Services werden digitalisiert, andere sind eben stark kulturell konnotiert. Der Economist benutzte schon 2019 den Begriff der „Slowbalisation“. Sie brauchen nicht alles um die Welt transportieren.
Hat auch die Idee des global einheitlichen Produktes ausgedient?
Unternehmen haben immer die Besonderheiten einzelner Märkte genau beobachtet. Daraus entstehen Impulse für die Unternehmen in aller Welt. Nehmen wir die Elektromobilität. Diese wird stark von den chinesischen Megacities getrieben. In Beijing verlassen die meisten Autos wahrscheinlich nie den städtischen Großraum – gut fürs Thema Ladekapazität. In Deutschland geht es schon auch mal darum, von München nach Hamburg zu fahren.
Das heißt, die Elektromobilität ist ein urbanes Produkt, zuerst entwickelt für Megacities. Was können wir überhaupt von den Megametropolen jenseits des Westens lernen?
Sie lehren uns, schnell zu sein und gleichzeitig komplexe Systeme zu managen. Sie funktionieren wie verbundene Röhren. Hier lernen Gesellschaften mit hoher Geschwindigkeit, kulturelle Komplexität auszuhalten und zu managen.
Was ein Schlaglicht auf ihre Topmanager, die Bürgermeister, wirft. Benjamin Barber schrieb das
Buch “If mayors ruled the world”…
Sie haben eine extrem wichtige Rolle, wie Vorstandsvorsitzende großer Unternehmen, fachlich und moralisch. Die Frage ist aber: Haben wir wirklich die besten Leute an der Spitze der Städte? Ist Frau Giffey die richtige Spitzenmanagerin für das Unternehmen Berlin? Herr Feldmann für Frankfurt? Ich erinnere mich noch an die Anziehungskraft, die Willy Brandt als Bürgermeister in den 1960ern in Berlin hatte. Das fehlt mir heute etwas.
Wie steht es mit der Rolle der großen Strategieberatungen in den Städten? Man hat den Eindruck, dass sie sich eher schwertun.
Das stimmt. Hier prallen unterschiedliche Logiken aufeinander. Bei BCG war zu meiner Zeit unser Appetit auf städtische Klienten immer geringer als für einige unserer Konkurrenten. Stadtverwaltungen oder die öffentliche Hand allgemein handeln nie nur faktenorientiert, sie sind politische Organisationen. Und: Verwaltungen müssen sich an starre Regeln halten. Unternehmen wollen Regeln eher brechen, weil so Innovationen entstehen.
Trotzdem wollen Städte von Unternehmen lernen. Man spricht viel von City Branding oder der Errichtung von Clustern.
Und die sind auch erfolgreich. Was wurde nicht über Berlin gelästert, als es den neuen Wissenschaftsstandort Adlershof ausrief. Der ist aber aus heutiger Sicht eine Erfolgsgeschichte.
Sie sind Vize-Chairman der BMW-Stiftung. Die hat mit ihrem Programm „RISE“ auch einen städtischen Programmschwerpunkt.
Uns ist wichtig, immer konkret in den Städten zu arbeiten. Wie kann man Stadt gestalten? Um das herauszufinden, gehen wir tief in Städte und Stadtteile hinein. Hier wollen wir lokale Lösungen und Prozesse entwickeln, die langfristige Wirkungen zeigen und die dann auch international skalierbar sein sollen.
guz