Gestatten: Laura, 27, Studentin der Kulturwissenschaften und engagiertes Mitglied einer globalen Nachhaltigkeitsinitiative: An den Wochenenden wirbt sie auf dem Marktplatz Passanten an oder bepflanzt im Nachbarschaftspark die Gemüsebeete. Nebenher jobbt sie noch in einem Secondhand-Laden – alles aus der Überzeugung heraus, dass ein nachhaltiger Lebensstil alternativlos ist, aber auch pragmatisch sein und Spaß machen muss.
Kommt Ihnen dieser Typus vage bekannt vor? Dann haben Sie vielleicht schon Bekanntschaft mit einer neuen gesellschaftlichen Gruppe gemacht:
dem „neo-ökologischen Milieu“. Diesen Namen hat sich das
Sinus-Institut für Markt- und Sozialforschung, ein privates Unternehmen mit Sitz in Heidelberg und Berlin, ausgedacht – mitsamt „Laura“ als fiktiver Stellvertreterin.
Seit mehr als 40 Jahren vermessen die Forscher die Lebenswelten und -einstellungen der Deutschen und sortieren sie nach Gruppen Gleichgesinnter, den sogenannten Sinus-Milieus.
Nun haben sie ihr Gesellschaftsmodell zum vierten Mal überarbeitet. Die bürgerliche Mitte ist daraus verschwunden, dafür sind drei neue Milieus hinzugekommen: das neo-ökologische (junge, progressive Treiber der globalen Transformation), das postmaterielle (engagierte, liberale Bildungselite; Verfechterin des Post-Wachstums) sowie das nostalgisch-bürgerliche (die einstige Mitte, die sich nach Sicherheit sehnt und vom Wandel überfordert fühlt).
Das Sinus-Modell ist in erster Linie ein Instrument für Marktforschung und PR-Zwecke; es dient Firmen, Parteien und NGOs dazu, ihre Zielgruppen besser zu erfassen und Produkte zu platzieren. Doch auch für Stadtmacher hält das Milieu-Update interessante Erkenntnisse bereit. Besonders auffällig: Zwar sind laut Sinus-Geschäftsführerin Silke Borgstedt alle zehn Gruppen überall in Deutschland vertreten. Doch die einflussreichsten Milieus finden und formieren sich vor allem in urbanen Zentren – und prägen dort den neuen Mainstream:
- die Postmateriellen mit ihrem öko-liberalen Großstadt-Lifestyle (Stichwort Lastenfahrrad);
- die expeditive Bohème (vom Institut auch „urbane Styler“ genannt), in der kreative Kosmopoliten neue Trends ausloten und in die breite Gesellschaft einspeisen;
- und schließlich eben die Neo-ökologischen, die wie ihr Alter Ego Laura zwischen Secondhand-Laden, Nachbarschaftsgarten und Studikneipe ihre Vision einer besseren Welt vorleben.
Das belegt und betont einmal mehr die Rolle von Großstädten als Reallabore: Denn die sind (plakativ formuliert) eben nicht nur Schauplätze von Wohnungsnot und Verkehrsinfarkten, sondern auch von sozialer Innovation – als Inkubatoren, in denen Menschen sich selbst und neue Lebensentwürfe ausprobieren können.
Zugleich wird aber auch deutlich, wie sich neue Spannungen zwischen Stadt und Land auftun; zumal das verunsicherte, teils auch verbitterte Milieu der Nostalgisch-Bürgerlichen eher im ländlichen Raum zu finden ist – vor allem im Osten. Das düstere Fazit des Instituts lautet: „Die Lebenswelten driften auseinander.“
Allerdings, und auch das ist für Stadtmacher von Interesse: Je tiefer die Sinus-Forscher in die Deutschlandkarte reinzoomen, desto bunter wird meist das Bild. Dank umfassender Erhebungen können sie Quartiere und Straßenzüge in ihrer sozialen Zusammensetzung im Detail aufschlüsseln – bis hinunter auf Hausebene. Auf diese Weise lassen sich Veränderungen ausmachen; zum Beispiel Gentrifizierungs- bzw. Verdrängungsprozesse.
Und übrigens: Wenn es nach den Sinus-Milieus geht, ist Berlin viel besser als sein Ruf. Die Hauptstadt wird ja gern als Hipster-Hochburg verschrien, die mit dem restlichen Land nichts zu tun habe. Doch tatsächlich, sagt Borgstedt, repräsentiere Berlin die Republik ziemlich gut: „Die Verteilung der Milieus über alle Stadtteile entspricht in etwa dem Bundesdurchschnitt.“ cél