Es gehört zu den kuriosen Phänomenen der Stadtplanung, dass ihre Akteure dazu neigen, vor lauter gebauter Umwelt manchmal den Menschen darin zu vergessen. Wer aus sozialaffinen Disziplinen wie der Stadtanthropologie stammt und von außen auf Bauvorhaben schaut, kann sich oft nur wundern, mit welcher Begeisterung die zuständigen Macher über solche Dinge wie Traufhöhen oder Tiefgaragenentwässerung debattieren – nicht aber darüber, wie sich die urbane Gestaltung eigentlich auf die Gesellschaft auswirkt.
Ein sehr schönes Beispiel dafür haben nun Forscher der Universität Genf (UNIGE) und der Università della Svizzera Italiana (USI) in
„The Economic Journal“ präsentiert. Das Team um
Frédéric Robert-Nicoud, Professor an der Fakultät für Wirtschaft und Management der UNIGE, hat sich den
Ausbau von Autobahnen in der Schweiz angeschaut – und die Folgen für die betroffenen Gemeinden. Denn obwohl die Verkehrsinfrastruktur eine Großbaustelle ist, in die Staaten Milliarden investieren, wird über die soziale Kosten des Asphaltrauschs bislang kaum diskutiert.
Für ihre Studie untersuchten die Forscher insgesamt 2.480 Schweizer Gemeinden; darunter insbesondere jene 780 Orte mit weniger als 10.000 Einwohnern, die im Zeitraum von 1950 bis 2010 an das Autobahnnetz angeschlossen worden waren. Anhand von vier Datenclustern (Steuerzahlungen in verschiedenen Einkommenskategorien, Volkszählungen, Daten zur Entwicklung des Autobahnnetzes und Erhebungen von Haushaltsausgaben) wertete das Team aus, wie sich die Bevölkerung in den fraglichen Gemeinden zusammensetzte – und wie sich die gesellschaftlichen Schichten verschoben, sobald die Orte besser angebunden waren.
Das Ergebnis lautet, auf eine Formel gebracht: Wohlhabenden Menschen bringt die neue Erreichbarkeit erhebliche Vorteile – die indirekten Kosten werden jedoch überproportional von Menschen mit niedrigem Einkommen getragen. So rechnen die Forscher vor, dass die Zahl der Haushalte in den neu angeschlossenen Gemeinden im Schnitt um 14 Prozent steigt. So weit, so erwartbar; schließlich sorgt ein Autobahnanschluss dafür, dass Arbeitsplätze, Schulen und Geschäfte für vormals abgehängte Orte plötzlich in attraktive Nähe rücken. „Neu ist, dass die Zahl der Haushalte in den reichsten 10 Prozent der Bevölkerung um 42 Prozent zunimmt, während die Zahl der Haushalte unterhalb des Medianeinkommens (50 Prozent der Bevölkerung) nur um 5 Prozent zunimmt“, sagt Robert-Nicoud.
Der Autobahnanschluss hat damit zwar etwas Gutes: Er führt zur besseren Durchmischung in den Gemeinden – zuvor waren reiche Haushalte dort unterrepräsentiert. Allerdings weist das Forscherteam auch auf indirekte Effekte hin: Wird ein Ort durch die neue Nähe zu Jobs und Co. attraktiver, so steigen dort die Grundstücks- und Immobilienpreise. Diese Belastung trifft den Autoren zufolge die ärmsten Haushalte unverhältnismäßig stark, da sie etwa 40 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen ausgeben. Bei den wohlhabenden Haushalten sind es nur 15 Prozent. Den Preis für die neue Erreichbarkeit zahlen also die Geringverdiener.
Und was hat das alles nun mit Stadtentwicklung zu tun? Nun: Laut Studie breiten sich Citys, sobald sie an den großen Verkehrsadern hängen, immer weiter aus – weil laut Robert-Nicoud derartige Erschließungen die Attraktivität und Erreichbarkeit umliegender Regionen erhöht. „Langfristig führt der Anschluss zu einem Rückgang der Bevölkerung in den städtischen Zentren um 29 Prozent“, resümiert er. „Dasselbe gilt für die Arbeitsplätze, von denen letztlich 18 Prozent dezentralisiert sind.“
Für Planer bedeutet das: In den gerade hierzulande schwelenden Autobahn-Streitigkeiten sollte man nicht nur auf Pendlerströme, Krötenwanderungen und CO2-Emissionen schauen, sondern auch darauf, was ein Ausbau längerfristig mit den Orten und Menschen macht, die an den neuen Verkehrsadern hängen – in beide Richtungen. Sonst hat man zwar ein schickes Straßennetz, muss dafür aber unerwünschte Wanderbewegungen und soziale Segregation in Kauf nehmen. Und das macht die ganzen Milliardeninvestitionen unterm Strich noch viel teurer. cél