Die Erinnerung an die Bücher, die wir in unserer Jugend gelesen haben, gehört zu den rätselhaftesten Erscheinungen der alltäglichen Rezeption von Literatur. An manche Szenen und Figuren erinnert man sich auf eine Art und Weise, die vollkommen plastisch und intakt erscheint. Während man sich an die Handlung eines Buches, das man vor einer Woche erst gelesen hat, bald kaum noch erinnern kann und in einem Gespräch darüber, warum es gut oder schlecht war, eigentlich nur noch das gute oder schlechte Gefühl heraufbeschwört, das man bei der Lektüre empfunden hatte, sind die Handlungen einiger Jugendbücher unmittelbar wieder aufrufbar.
Ähnliches gilt auch für andere Rezeptionsvorgänge. Ich kann bis heute größere Teile einer überspielten Kassette der Band “Die Prinzen” mehr oder weniger auswendig, obwohl ich beschwören möchte, dass ich die Lieder seit 20 Jahren nicht mehr aktiv gehört habe. Die Gedichte dagegen, die ich während dem Studium mühsam auswendig gelernt habe, sind so gut wie alle durchs Sieb meiner Erinnerung verschwunden. Es scheint eine Zeit im Leben zu geben, in der man sehr rezeptiv für Kultur ist, und das ist dann leider die Zeit, in der man wieder und wieder “Die Prinzen” hört.
Die Erinnerung an den Kulturkonsum der Jugend ist natürlich nur selektiv stabil, viel ist auch verschwunden. Vor allem wird aber auch viel falsch erinnert - oder nicht falsch, sondern auf eine Art und Weise, die das Erlebnis eines Buches, Film, Songs etc. immer aktualisiert. Heinz Schlaffer schreibt in seinem Aufsatz “Der Umgang mit Literatur” über das Konzept der Erinnerten Lektüre: “Die Erinnerung ist kein Protokoll der Lektüre, sondern ihre Neuschöpfung, wobei einige Züge des Werks, die im Akt des Lesens noch deutlich wahrgenommen wurden, verwittern, andere jedoch ihre Kontur schärfen.”
Diese Form der Neuschöpfung erscheint dann auch dafür verantwortlich zu sein, dass man oft schockiert ist, wenn man die alten Sachen wieder hervorzieht, weil die Erinnerung daran vollkommen unidentisch mit dem ist, was man vorfindet. Das ist ein Problem für eine vollkommen von Nostalgie besessene Kultur, die am liebsten unter die warme Decke des Jugendkulturkonsums zurückkriechen würde. Die ständige Aktualisierung dieser initialen Hingerissenheit von einem ästhetischen Artefakt wird dadurch sabotiert, dass unsere ästhetischen Vorlieben sich natürlich verändert haben. Kinder und Jugendliche lesen auf eine sehr andere Art als Erwachsene. Wir werden unser jugendliches Ich für immer um die rauschhaften Lektüreerfahrungen beneiden, die im Erwachsenenalter durch die Fähigkeit zunichte gemacht wurde, von schlechten Büchern peinlich berührt zu sein.
Vor einiger Zeit habe ich wieder in die Buchreihe Die Söhne der großen Bärin hineingelesen und sofort wieder aufgehört. Der Stil war altbacken und naiv - nicht unbedingt schlecht, aber so wenig deckungsgleich mit dem, woran ich mich erinnern konnte, dass ich den Eindruck hatte, hier vor allem gerade eher etwas kaputt zu machen als wiederzubeleben. (Dazu kommt das nahliegende Problem, dass auch das Ausmaß der kulturellen Aneignung, das einem als Jugendlicher zu Beginn der 1990er Jahre nicht klar war, den Eindruck der Lektüre fast automatisch zerstört.)
Ein grundsätzliches Problem scheint mir zu sein, dass das, woran man sich erinnert, fast nie der Stil ist, sondern Figuren und Handlung, vor allem aber die spezifische Atmosphäre der fiktionalen Welt, in der man damals gelebt hat. Das erste, womit man bei der Re-Lektüre konfrontiert wird, ist aber der Stil. Viele der jugendlichen Lektüreerfahrungen sind für immer verloren, weil man sich nie wieder in den Zustand versetzen können wird, in dem ein Aufenthalt in dieser Welt so attraktiv und eigentlich existentiell erschien.
Ich interessiere mich gerade sehr für solche Formen der gebrochenen Rezeptionserfahrungen. Falls Leser*innen dieses Newsletter eigene Erfahrungen und Beobachtungen haben, wäre ich dankbar, sie zu hören. Wenn genug zusammenkommt, würde ich vielleicht auch noch mal darüber schreiben (natürlich immer mit der angemessenen Diskretion). Dazu gehört zum Beispiel auch die Erfahrung von Eltern, die ja fast zwangsläufig in die Situation kommen, alte Kinder- und Jugendbücher wieder hervorzuholen.(Gerne als Nachricht oder auf Twitter).